Zwölf Fragen und Antworten zum Interview
von Andreas Baumert
In Veranstaltungen über Recherchegespräche, zum Beispiel auf regionalen Treffen der tekom, diskutieren die Teilnehmerinnen und Teilnehmer meist recht engagiert über ihre Erfahrungen mit Interviews. Bei diesen Gelegenheiten werden einige Fragen besonders oft gestellt. Zwölf beantworten wir Ihnen in diesem Beitrag.
1. Ich habe den Eindruck, dass ich zu viel Zeit auf Gespräche verwende. In welchem Verhältnis sollten Interviews zeitlich zu den anderen Arbeiten in der Redaktion stehen?
Eine Faustregel gibt es nicht. Manchmal muss man stundenlang mit den Entwicklern sprechen, weil die Funktionsweise des Produktes sehr schwer zu verstehen ist oder nichts schriftlich vorliegt. Gelegentlich – das passiert häufig bei Software – ist die Gestaltung der internen Vorgänge und der Produktoberfläche so benutzerunfreundlich, dass auch Technische Redakteure viel Zeit und Rückfragen benötigen, um alles zu begreifen. Einige Produkte verlangen, dass Autoren häufig an der Produktionsstätte auftauchen, um die Entwickler zu befragen und den Stand der Arbeit zu beobachten. Bei meinen Untersuchungen zu diesem Thema habe ich die Aussage eines Redakteurs gefunden, der bis zu 80% der Arbeitszeit mit Gesprächen verbrachte.
Wenn häufig Interviews nötig sind, ist das also kein Problem. Allerdings muss man die Ursachen herausfinden und dokumentieren. Noch immer gibt es Redakteure, die ihre Arbeit nicht protokollieren. Sie haben es besonders schwer, die Schwachstellen in der Informationsbeschaffung am Ende eines Projekts zu benennen und für Abhilfe beim nächsten Auftrag zu sorgen.
Eine Auftragstasche oder dergleichen ist unverzichtbar. Dort notiert man, mit welchem Aufwand man zu Projektbeginn gerechnet hat, worin die Gründe für Abweichungen zwischen Ist und Soll bestehen. Ohne diese das Projekt begleitende Dokumentation ist eine realistische Kalkulation der Kosten des nächsten Auftrages nicht möglich. Daraus ergibt sich auch, ob der Aufwand für Interviews gerechtfertigt ist oder nicht.
2. Welche Uhrzeit ist am besten für ein Interview geeignet?
In der Technischen Redaktion macht man recht gute Erfahrungen mit Gesprächen vor der Mittagspause. Der Vorteil dieses Termins ist, dass der Interviewte einen klaren Endpunkt vor Augen hat, er muss nicht fürchten, dass die vereinbarte Zeit überschritten wird und kann sich gedanklich darauf vorbereiten, nach der Pause an seine Arbeit zurückzukehren.
Die Termingestaltung sieht völlig anders aus, wenn man lange Anreisewege einplanen muss, das Interview länger dauern wird oder mehrere Experten nacheinander zu befragen sind.
3. Wie lange darf ein Interview dauern, ohne dass ich dem Entwickler auf die Nerven gehe?
90 Minuten sollten reichen. Ich kenne aber auch einen Redakteur, der tatsächlich eine ganze Woche lang nur interviewt hat. Anreise Sonntag abends, Beginn Montag früh, Ende Freitagabend. Das ist sicher eine Ausnahme, für die es unter besonderen Produktionsbedingungen einen Grund geben mag: Sondermaschinenbau, Eile, kaum Geschriebenes über die Anlage, unvorhergesehene Ereignisse, manchmal auch die Panik vor der Auslieferung.
Typische Recherchegespräche sollten aber nicht zu lange dauern, damit der Redakteur die Informationen verarbeiten kann und der Befragte nicht zu lange von den Arbeiten getrennt ist, die ihm meist mehr Spaß bereiten als die Interviewsituation.
4. Was ist der beste Ort für ein Interview?
Ideal ist es, wenn der Interviewer den Raum im Griff hat, am besten ein Besprechungszimmer, das vorher mit den nötigen Materialien, auch mit Kaffee, Wasser und dergleichen präpariert wurde. Der Arbeitsplatz des anderen bietet zu viele Gelegenheiten für Ablenkungen. Außerdem ist es nicht einfach, dort den Rollenwechsel vorzunehmen: „Es ist zwar Ihr Zimmer, aber jetzt bestimme ich, worüber geredet wird.“ Interviews verlangen, dass der Redakteur das Geschehen bestimmt. Das ist nicht einfach, wenn man beim Gesprächspartner zu Gast ist.
Natürlich gibt es Ausnahmen. Wenn man mit dem Konstrukteur in einer Werkhalle reden muss, weil die Maschine beim Interview benötigt wird, geht es nicht in einem Besprechungszimmer. Auch komplizierte Software-Installationen lassen keine andere Wahl, als das System im Büro des Programmierers anzuschauen und mit diesem darüber zu reden. Ich habe auch Leute kennen gelernt, die ihre Zähne nicht auseinander bekommen und in fremden Räumen noch schweigsamer sind als im eigenen Büro. Solche Partner sind bessere Informationsquellen, wenn man sie an ihrem Arbeitsplatz besucht.
5. Sind Aufzeichnungsgeräte sinnvoll? Wenn ja, was ist zu empfehlen, Band oder digital? Oder Video?
Der Mitschnitt erübrigt Nachfragen, weil etwas übersehen wurde, außerdem kann man sich auf das Gespräch besser konzentrieren. Manche Interviewpartner haben aber etwas dagegen. Da ist dann ein bisschen Überzeugungsarbeit nötig. Mein Tipp: Starten Sie rechtzeitig damit, überraschen Sie den anderen nicht mit einem Tonbandgerät, mit dem er nicht gerechnet hat.
In den meisten Fällen dürfte ein Diktiergerät neuerer Bauart reichen. Für etwa einhundert Euro findet man schon etwas. Wichtig ist, dass dieses Gerät eine Markierungsfunktion hat: Wenn etwas wirklich Interessantes kommt, drückt man auf einen Knopf und speichert ein Extrasignal. Das kann man dann beim schnellen Vorspulen hören und so alles etwas effektiver bearbeiten. Die Qualität des Mikrofons sollte kein Problem bei Markenprodukten sein, Sie wollen ja mit der Aufzeichnung nicht auf Sendung gehen. Ob Sie mit analoger oder digitaler Aufzeichnung arbeiten, ist unerheblich. Ich benutze noch ein Bandgerät, mein nächstes wird vielleicht digital sein.
Videoaufzeichnungen sind überflüssig, wenn man sie nur zum Speichern des Interviews benötigt. Zu viel Trubel, schlechte Qualität, auch drängt sich die Technik leicht in den Vordergrund und lenkt ab. Allerdings kommt man um das Video nicht herum, wenn – wie das häufig im Sondermaschinenbau geschieht – komplexe Bedienschritte durchgespielt werden müssen. Manchmal ist dann sogar zusätzlich die Digitalkamera nötig, um bei dieser Gelegenheit Bilder zu schießen, die später in die Dokumentation übernommen werden.
6. Kann mein Interviewpartner nicht viel freier sprechen, wenn er gar nicht merkt, dass ich aufnehme?
Sicher, deswegen genießt er auch besonderen Schutz durch das Gesetz. Wer das nicht-öffentlich gesprochene Wort eines anderen ohne dessen Einwilligung aufzeichnet, macht sich strafbar. Da die Geräte heute kleiner als eine Zigarettenschachtel sind, mag für manchen die Versuchung groß sein. Doch Aufnahmen ohne Genehmigung sind verboten. Am besten ist es, wenn man schon in den ersten Sätzen der Aufzeichnung den Mitschnitt erwähnt, dann kann es später keine Irritationen geben: „So, das Gerät ist eingeschaltet. …“
7. Ich habe gelesen, dass man seine Fragen vorher notieren soll. Ist das nicht etwas übertrieben? Schließlich weiß ich, was ich erfahren will und muss nicht ständig nachsehen.
Wenn es um Kleinkram geht, braucht man keinen schriftlichen Fragenkatalog. Anders wird es bei komplexen Sachverhalten und in Interviews, die eine etwas andere Richtung nehmen, als man geplant hatte. Neue – unvorhergesehene – Informationen können den Interviewer zwingen, den zuvor geplanten Pfad zu verlassen. Dann kann es schnell passieren, dass man sich verzettelt und wichtige Fragen vergisst. Was man aber vergessen hat, führt später zu peinlichen Rückfragen, es hinterlässt einen unprofessionellen Eindruck.
Die wichtigsten Fragen passen meist auf eine DIN A4-Seite. Darauf haben auch Zusatzinformationen Platz, die man eventuell noch benötigt. Im Interview liest man diese Fragen nicht vor, sie dienen nur als Stichwortgeber.
Ich empfehle sogar, eine zweite Version des Fragenkatalogs für den Notfall mitzunehmen, eine, die der Interviewer dem anderen aushändigen kann – mit Telefonnummer, Anschrift und E-Mail. Wenn man nicht alle Themen besprechen kann, gibt man dem anderen diese zweite Version, damit man später darüber reden kann, vielleicht telefonisch oder über E-Mail.
8. Sind Telefoninterviews nicht effektiver und auch preisgünstiger als die persönliche Begegnung?
Bei Kleinigkeiten reicht oft ein Anruf. Das kann auch genügen, wenn die persönliche Begegnung unterbrochen wurde oder die Zeit nicht gereicht hatte, und nun nur einige wenige Fragen übrig geblieben sind.
Doch Vorsicht! Anrufende Technische Redakteure machen sich schnell unbeliebt, weil immer diejenigen durch das Telefon gestört werden, die am meisten von einem Produkt verstehen. Viele mögen es nicht, bei einer Arbeit unterbrochen zu werden, die ihnen Spaß bereitet. Es ist ja auch nicht mit einer einfachen Antwort getan. Man wird aus der Konzentration gerissen, beantwortet einige Fragen, um anschließend wieder an die Stelle zu gelangen, mit der man sich vor der Unterbrechung befasst hat. Das kann sehr viel Zeit stehlen und wirkt auf die Dauer frustrierend.
Vordergründig ist das Telefoninterview selbstverständlich preiswerter. Über den tatsächlichen Preis kann man aber wenig sagen, wenn man den Schaden nicht kennt, der so angerichtet wird.
Die persönliche Begegnung ist die beste Methode, ein Recherchegespräch zu führen.
9. Was ist besser, Einzelinterviews oder Gruppengespräche?
Mit Gruppengesprächen verknüpfe ich nur wenige gute Erinnerungen, wenn zu viele mit unterschiedlichen Interessen teilnehmen. Man hat oft Ärger damit, dass sich innerbetriebliche Hackordnungen auswirken. Welcher Entwickler wird schon in Anwesenheit des Chefs über Probleme des Produktes reden? Im Einzelinterview kann man mehr von ihm erfahren.
Wenn ein gruppendynamischer Prozess das Gespräch beeinflusst, wird es für den Interviewer sehr schwer, die Störungen herauszufiltern. Da sich nicht jeder traut zu sagen, was er denkt, werden manche die Zusammenkunft als eine unangenehme Pflicht empfinden, mehr noch als das Gespräch von Angesicht zu Angesicht. Meist verplempert man mehr Zeit für weniger Nutzen, wenn man sich in der Recherche auf Gruppentreffen einlässt.
Doch auch zu dieser Empfehlung gibt es Ausnahmen: Sehr nützlich können die Treffen mit Kollegen von Marketing, Werbung oder Anwendungsberatung/Service sein. Das ist zwar keine klassische Interviewsituation, man kann aber sehr viel über Strategien, Kunden und – wenn vorhanden – Probleme mit dem Produkt oder seinen Vorgängern erfahren. Dieses Wissen ist sehr nützlich für die Gestaltung der eigenen Dokumente.
Die zweite Ausnahme sind kleine Entwicklerteams, zwei bis drei Kollegen, die gut miteinander auskommen und sich nicht gegenseitig mit Imponiergehabe blockieren.
10. Manchmal muss ich Entwickler interviewen, die ich einfach nicht verstehe. Wie kann ich damit umgehen, ohne dass mich mein Gesprächspartner für inkompetent hält?
Frustrierende Erlebnisse dieser Art kennen viele Redakteure. Verglichen mit der Kompetenz des Gesprächspartners sind sie blutige Laien. Eigentlich sollte es niemanden irritieren, dass einer Maschinen entwickelt und ein anderer schreibt, beide aber nicht die Aufgabe des jeweils anderen lösen können. Dennoch gibt es oft Irritationen, von denen Ihre Frage spricht.
Akzeptieren Sie Ihre fachlichen Grenzen in dem Arbeitsgebiet des anderen. Das ist überhaupt kein Problem, wenn Sie in Ihrem Bereich professionell vorgehen. Dazu gehört, dass
• Sie das Interview ordentlich vorbereiten,
• alle für dieses Projekt wichtigen Informationen kennen, die man durch Recherche in Netzen, das Lesen von Büchern, Stöbern in alten Dokumenten erwerben kann.
Haben Sie diese Voraussetzungen geschaffen, kann Ihnen niemand einen berechtigten Vorwurf machen. Wer dann noch nörgelt, hat etwas gegen Sie oder akzeptiert Ihren Beruf nicht. Unter geringer Anerkennung der Profession leiden mehrere Technische Redakteure, Sie wären damit also nicht allein.
Grund zur Selbstkritik gibt es, wenn man seine Hausarbeiten nicht gemacht hat, Texte nicht kennt, die man selbstverständlich hätte lesen sollen, die Fachterminologie nicht parat hat, obgleich sie in Normen oder Nachschlagewerken beschrieben ist, Vorgänge und Geschäftsprozesse nicht versteht oder anderes nicht weiß, weil die – vor dem Interview nötige – Recherche lückenhaft ist.
Manchmal steckt aber auch etwas anderes hinter der Irritation. Einige Interviewpartner nutzen Kompetenz, Hintergrundwissen und Fachvokabular wie eine Galauniform. Sie paradieren in ihrem Zwirn und erwarten Bewunderung. Andere haben irgendwelche Leichen im Keller und hoffen, dass niemand etwas bemerkt, wenn alle Wegweiser kompliziert genug beschriftet sind.
11. Im Interview erfahre ich als Dienstleister sehr viel über den Auftraggeber, Produkt und Produktionsbedingungen. Die Weitergabe meiner Aufzeichnungen an den Wettbewerb könnte sich sehr verkaufsschädigend auswirken. Wie können die unterschiedlichen Interessenlagen von Dienstleister und Auftraggeber wirkungsvoll berücksichtigt werden?
Unterschiedliche Interessen erkenne ich nicht in Ihrer Beschreibung. Es ist doch ein bisschen wie beim Arzt. Wenn dieser über seine Patienten redet und damit Schaden verursachen würde, diskreditiert er sich selbst. Sehen wir davon ab, dass er sich eventuell strafbar macht, müsste jeder halbwegs vernünftige Klient eine solche Plaudertasche meiden. Denn wer heute Tratsch und Klatsch erfährt, wird morgen durch den gleichen Boten zum Opfer der Geschwätzigkeit.
Diskretion ist also auch außerhalb der juristischen Betrachtung eine Selbstverständlichkeit. Natürlich kann man sie auch ausdrücklich schriftlich zusichern und alles Material – einschließlich die Kassetten – mit Projektabschluss aushändigen.
Ähnliches gilt auch für den Gesprächsteilnehmer selbst. Wie bei den Journalisten sollte auch in der Technischen Redaktion der Schutz des Informanten oberste Priorität genießen. Doch hier wie dort gibt es Ausnahmen, Situationen, in denen niemand dem Interviewer die Entscheidung abnehmen kann. Was muss beispielsweise geschehen, wenn Sie im Interview davon erfahren, dass Ihr Gesprächspartner dem gemeinsamen Auftraggeber Schaden zufügt? Gehen Sie auf der Stelle zum Vorgesetzten, riskieren Sie, dass sich Ihnen niemand mehr anvertraut.
Solche Fragen berühren die Ethik des Berufes Technischer Redakteur, ebenso wie vielleicht das Verhältnis zwischen Wahrheit im Text und Nutzen des Auftraggebers. Dieses Gebiet ist noch ein weitgehend unbearbeitetes Feld. Allgemeine Empfehlungen wären unsinnig, mit einer Ausnahme: Die wenigsten Probleme dieser Art hat der Interviewer, der authentisch bleibt, zu sich selbst steht.
12. Ich habe mit Interviews überhaupt kein Problem. Wenn ich etwas nicht verstehe oder eine Frage habe, gehe ich zum Entwickler und rede mit ihm. Das ist eigentlich noch nie schief gegangen. Machen die anderen etwas falsch? Oder habe ich etwas übersehen?
Weder noch. Es gibt einfach Arbeitsumgebungen, in denen die Kollegen prima miteinander zurecht kommen, ihre Informationen bereitwillig teilen und auch vermeintlich „dumme“ Nachfragen keinen Ärger auslösen. Wenn man fast freundschaftlich zusammenarbeitet, sieht alles etwas anders aus als in der typischen Recherche der Technischen Redaktion.
Solange sich daran nichts ändert, soll alles bleiben, wie es ist. Veränderungen wären ein Arbeitsplatzwechsel, ein neuer Entwickler, der etwas anders ist als die anderen, oder eine neue Aufgabe, vielleicht die redaktionelle Mitarbeit an einer Zeitschrift für Kunden oder Mitarbeiter. Dazu muss man sich dann mit den Techniken der Recherche beschäftigen, damit die Arbeitsergebnisse überzeugen können.
Letzte Änderung: 16AUG12
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